Im Zen geht es um die Vergegenwärtigung des eigenen wahren Wesens, das noch verdeckt ist durch das vordergründige Ich. - Dieser Satz ist ein kleiner Fingerzeig, aber was Zen ist, kann nur unmittelbar erfahren werden von einem, der unvoreingenommen und hellwach das wahrnimmt, was sich in diesem Moment vor seinen Augen und in seiner Innenwelt ereignet.
Lass Dich mit ganzem Herzen und in voller Hingabe auf das Leben, auf die Wirklichkeit ein! Lass Dich ergreifen von dem Geist, der in allem wirkt. Wenn sich in dir dieser ursprüngliche Geist seiner selbst gewahr wird, fallen alle Gegensätze in eins zusammen. Innen und Außen sind nicht mehr getrennt. Leere ist Form und Form ist Leere. - Doch halte Dich nicht an solchen Worten fest und glaube nicht, durch Begriffe das Wesen des Zen zu begreifen! - "Was ist Zen?", fragt ein Schüler seinen Meister. Dieser antwortet: "Geh weiter!"
"Was ist Zen?" fragt ein anderer. Der Meister: "Sei offen und weit wie der Himmel!"
Zen ist ein Weg des Wachwerdens, ein Weg zum tieferen Erkennen der Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit ist auf zweierlei Weise wahrnehmbar: Wir können sie als eine Vielfalt sehen, die aus unzähligen, zeitlich und räumlich begrenzten individuellen Formen besteht, aus Personen und Ereignissen von je einmaliger Besonderheit; oder wir erfahren sie als eine einzige geistige Kraft, als eine nicht an Raum und Zeit gebundene Einheit, in der alle Gegensätze aufgehoben sind.
Weder die erste noch die zweite Anschauung allein und auch nicht ein Nebeneinander von beiden führt zur Wesensschau (kensho). Erst wenn wir Unterschiedenheit und Einheit miteinander versöhnen, erwachen wir zur Wirklichkeit. Dann zeigt sich das absolute Eine in jedem Menschen, durch alles, was geschieht und auch in jedem kleinsten Ding, und die Welt ist prall gefüllt mit Sinn.
„Wenn jemand fragt, was das wahre Zen ist, ist es nicht notwendig, dass ihr den Mund öffnet um es zu erklären. Zeigt alle Aspekte eurer Zazenhaltung. So wird der Frühlingswind wehen und die wunderbare Blüte des Zwetschgenbaumes erblühen lassen.“.
(Daichi Sokei 1290-1366)
Neu erschienen:
Mahinda Deegalle (Hrsg.): Dharmayatra - Festschrift zum 65. Geburtstag von Dr. Tampalawela Dhammaratana,
NUVIS-Editions, Paris 2022.
557 Seiten, 38 Aufsätze (Sprachen: Englisch, Französisch, Chinesisch, Singhalesisch, Deutsch);
Aufsatz Nr. 28, S. 391-416: Johannes Soth: Philosophen der Kyoto-Schule in ihrer Beziehung zu Meister Eckhart - Konfrontation und Faszination.
Die in diesem Aufsatz durchgeführten Untersuchungen zum übergreifenden Thema ›Der Mensch in Beziehung zum Absoluten‹ zeigen, dass sowohl die Philosophen der Kyôto-Schule als auch Meister Eckhart hervorragende Brückenbauer zwischen Ost und West sind. Es ist zu hoffen, dass im interreligiösen Dialog die jeweils unterschiedlichen Zugänge zum Einen in den beiden Religionen in ihrer Vielfalt erhalten bleiben, dass aber zugleich auch erkannt wird, wie sich die vorhandenen Gegensätze oftmals auf einer höheren Wirklichkeitsebene auflösen können: Einheit in Unterschiedenheit. Dann kann in den wesentlichen Punkten mehr Gemeinsamkeit ans Licht kommen als bisher angenommen wurde. Die coincidentia oppositorum und die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung wird in den folgenden Worten Meister Eckharts in ihrer wunderbaren Wirkung erklärt und zusammengefasst. Im In-eins-Fallen der Gegensätze kann der Geist in Ruhe verweilen. Die Unterschiede sind nicht ausgelöscht, sondern die Quelle tiefster Erkenntnis ist freigelegt.
Nû lose wunder! Welch wunderlich stân ûze und innen, begrîfen und umbegriffen werden, sehen und sîn diu gesiht, enthalten und enthalten werden: daz ist daz ende, dâ der geist blîbet mit ruowe in einicheit der lieben êwicheit.
Nhd.: »Lausche <denn> nun auf das Wunder! Welch wunderbares Stehen draußen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und <zugleich> das Geschaute selbst sein[Hervorhebung J. S.], halten und <zugleich> gehalten werden: das ist das Ziel, wo der Geist in Ruhe verweilt, der lieben Ewigkeit vereint.«
Meister Eckhart, Werke I (Bibliothek des Mittelalters), Texte und Übersetzungen von Josef Quint, herausgegeben und kommentiert von Niklaus Largier, Predigt 86,
S. 220, 7-10; nhd. Übersetzung: S. 221, 11-15.